Ex-Finanzminister Christian Lindner, FDP, hat turbulente Wochen hinter sich. Große Medienhäuser werfen ihm vor, das Ampel-Aus bewusst provoziert zu haben und seiner staatspolitischen Verantwortung nicht gerecht geworden zu sein. Der FDP-Chef kontert mit einem Blick nach vorne.
Beim Gespräch mit der Berliner Zeitung im Hans-Dietrich-Genscher-Haus in Berlin-Mitte zeigt er sich kampfeslustig und überraschend entspannt.
Herr Lindner, als Sie kürzlich bei Caren Miosga hart in die Mangel genommen wurden – kamen Sie sich da vor wie im falschen Film?
Olaf Scholz sieht sich einem Untersuchungsausschuss wegen der Cum-Ex-Affäre gegenüber. Robert Habeck muss sich einem Untersuchungsausschuss stellen, der prüft, ob beim Ausstieg aus der Kernenergie alles mit rechten Dingen zugegangen ist. Da müssen die Zuschauerinnen und Zuschauer bewerten, ob meine Befragung im Vergleich dazu angemessen war. Die Härte dieses Wahlkampfs zeigt, dass es um eine wirkliche Richtungswahl geht. Ich bekenne mich in aller Offenheit dazu, dass die FDP in diesem Herbst entweder eine neue Politik oder neue Wahlen herbeiführen wollte.
Waren Sie von der Inszenierung überrascht?
Im Vergleich zu anderen Gesprächen war es ungewöhnlich. Ich höre allerdings von vielen Bürgerinnen und Bürgern, dass ihnen auffällt, dass mit der FDP als liberaler Partei und mir teils härter umgegangen wird als mit der AfD. Das hängt damit zusammen, dass die FDP eine Position vertritt, die für viele links der Mitte provokant ist, nämlich die Rückkehr zu einer Politik, die auf Freiheit und Eigenverantwortung setzt, die Respekt vor Leistungsbereitschaft fordert und unternehmerische Risikobereitschaft mobilisieren will. Auch stehen wir anderen machtpolitisch im Wege, denn mit einer schwachen FDP wäre der Weg frei für SPD und Grüne, in unserem Land weiterhin die Geschicke zu beeinflussen. Mit der FDP im Bundestag gibt es kein Schwarz-Grün und auch die Option einer Regierung ohne SPD. So erklärt sich manche Versuchsanordnung.
Aber die letzten Titelgeschichten bei Zeit und Spiegel waren ja sehr hart – ist das nicht etwas, was Sie anfasst?
Die Bürgerinnen und Bürger können das einordnen. Ich will die Debatte auf ihren Kern zurückführen: Die Ampel ist gescheitert, weil Olaf Scholz nicht zu einer anderen Wirtschaftspolitik bereit war, sondern mich zwingen wollte, 15 Milliarden Euro neue Schulden an den Bestimmungen des Grundgesetzes vorbei aufzunehmen. Mein Angebot, im Falle einer Nichteinigung gemeinsam geordnete Neuwahlen herbeizuführen, hat er ausgeschlagen.
Nach dem Bruch hat Scholz Sie persönlich attackiert. Sie hatten vorher täglich engen Kontakt mit ihm. Hatte sich die Eskalation abgezeichnet?
Die persönliche Herabwürdigung meiner Person war eine Überraschung. Ansonsten stand die Koalition seit November 2023 regelmäßig auf der Kippe. Nach dem Haushaltsurteil des Bundesverfassungsgerichts war es ja schon eine große Schwierigkeit, den Haushalt für 2024 aufzustellen. Wir haben das ganze Jahr über finanz- und wirtschaftspolitische Fragen und den Haushalt gerungen. Wolfgang Kubicki hatte ein mögliches Scheitern der Koalition für den Herbst in Aussicht gestellt und auch ich habe intern wie öffentlich gesagt: Angesichts der Auswirkungen der schlechten Wirtschaftslage auf unseren Lebensstandard und die Jobsicherheit in Deutschland ist ein Politikwechsel unerlässlich. Nun haben die Wählerinnen und Wähler das Wort. Sie können die Richtungsentscheidung treffen, zu der die Regierung Scholz nicht mehr in der Lage war.
dpa
Sie hatten als Finanzminister Einblick in die Zahlen wie kein anderer. Wo steht Deutschland wirklich?
Deutschland hat mit einer Billion Euro Staatseinnahmen genug Geld für alle wichtigen Aufgaben. Allerdings wachsen die Ausgaben schneller als die Wertschöpfung. Deutschland hat einen Sozialstaat, der Antriebslosigkeit toleriert und bisweilen Leistung bestraft. Wir gehen einen weltweit einmaligen Sonderweg bei Klimaschutz und Energiepolitik. Der leistet keinen Beitrag zur Bekämpfung der Erderwärmung, stellt aber unsere industrielle Basis infrage. Dies sind hausgemachte Probleme und das ist eine gute Nachricht: Wir müssen nicht auf andere hoffen, sondern wir können es selbst verändern. Das ist möglich: Wir haben gute Leute, Know-how und Kapital – jetzt brauchen wir nur noch den Willen.
Sie haben dieselben Informationen wie Scholz und Wirtschaftsminister Habeck. Rührt der Konflikt aus unterschiedlichen Denkschulen oder ist es eine Machtfrage?
Es sind zwei unterschiedliche wirtschaftspolitische Denkschulen. Rot-Grün setzt auf eine Top-Down-Transformation: Politiker und Beamte planen auf dem Reißbrett die zukünftige Wirtschaftsstruktur. Man will dann mit Verboten, Auflagen und Subventionen einzelne Technologien und Unternehmen fördern oder ihnen den zukünftigen Beitrag zum Erfolg verstellen. Beispiele sind Förderung für Intel und Northvolt oder das Verbrenner-Verbot und seine Auswirkungen auf VW. Die Denkschule, der ich mich zurechne, setzt darauf, für alle in der Breite die Rahmenbedingungen zu verbessern – weniger Bürokratielast, geringere Steuern, ein höheres Arbeitsvolumen im Land, eine Klima- und Energiepolitik, die sich stärker an physikalischen Realitäten orientiert. Kunden, Unternehmerinnen, Investoren und Wissenschaftlerinnen steuern dann den Kurs. Wenn private Entscheidungen mit privatem Geld getroffen werden, ist der Erfolg nachhaltiger, als wenn man mit anderer Leute Geld Gutes tun will.
Konnten Sie sich nicht durchsetzen?
Die Ampel hat sich am Ende selbst blockiert. Die Situation unseres Landes duldet aber keinen Aufschub mehr. Es verlieren jetzt auch Menschen ihren Arbeitsplatz, die dachten, sie hätten eine gutbezahlte, lebenslange Stelle bei Bosch oder anderswo. Wir sehen deshalb auch eine zunehmende Polarisierung: Die Menschen haben das Gefühl, dass sich der Staat in alles einmischt, aber bei den großen Aufgaben seiner Verantwortung nicht gerecht wird, etwa bei der Steuerung und Begrenzung der Migration. Das führt zu einer Unduldsamkeit, die die demokratische Landschaft destabilisieren kann. Wie so etwas passieren kann, sieht man in den Niederlanden.
Paulus Ponizak/Berliner Zeitung
Zur Person
Christian Lindner wurde am 7. Januar 1979 in Wuppertal geboren. Er ist seit Dezember 2013 Bundesvorsitzender der FDP und war von Dezember 2021 bis zum Bruch der Ampelkoalition im November 2024 Bundesminister der Finanzen im Kabinett Scholz.
Sie werden attackiert, weil Sie gegen das Schuldenmachen sind. Das war doch frühere herrschende Lehre.
Es gibt einen Unterschied zwischen der Politik der Schwarzen Null und dem Festhalten an Fiskalregeln. Die Schwarze Null hat im vergangenen Jahrzehnt zu einem Investitionsstau geführt, den die Regierung Merkel zu verantworten hat. Das Festhalten an Fiskalregeln bedeutet, dass wir die Fairness gegenüber der jungen Generation sicherstellen. Eine alternde Gesellschaft ohne Wachstum, aber mit wachsenden Schuldenständen ist nicht nachhaltig finanziert. Die Schuldenbremse zwingt uns, bei den Ausgaben Prioritäten zu setzen. Außerdem machen wir ja in diesem Jahr schon 50 Milliarden Euro Schulden, also weit weg von null. Es gibt zudem noch die Probleme in Europa: Die Defizit-Situation in Frankreich und Italien ist besorgniserregend. Wenn Deutschland vorsätzlich die europäischen Fiskalregeln brechen würde, wäre erst recht keine Disziplin von anderen Ländern zu erwarten. Innerhalb weniger Jahre wäre das Fundament unserer Währungsunion unterspült. Mit den großen Ländern in einer Schuldenkrise wären wir im Euroraum in der Endspiel-Situation.
Haben Sie noch politische Verbündete in der Schulden-Frage?
Die Union unternimmt eher Lockerungsübungen. Bereits vor der Bundestagswahl verändert die CDU aus koalitionstaktischen Gründen ihre Positionen: Sie ist offen für Steuererhöhungen, ist bereit, die Schuldenbremse zu lockern und kann sich Robert Habeck als Wirtschaftsminister im Kabinett Merz vorstellen. Nicht für alle, die mit der CDU/CSU sympathisieren, wird das eine Verheißung sein. Wenn es zu Schwarz-Rot oder Schwarz-Grün kommt, wäre das wieder eine Mitte-Links-Regierung, die den Status quo verwalten und den vorhandenen Wohlstand verteilen will. Ich werbe für Disruption, weil Deutschland falsch abgebogen ist: Wir brauchen eine radikale Verschlankung des Staats, um Bürger und Betriebe zu entlasten, sowie eine Klimapolitik, die europäisch und technologieoffen gedacht wird. Inklusive einer Verschiebung des deutschen Klimaziels vom Jahr 2045 auf das EU-Datum 2050, weil wir dadurch Milliarden Euro sparen. Wir alle werden außerdem unser Verhältnis zur Arbeit prüfen müssen. Mit einer Vier-Tage- und 34-Stunden-Woche, einem international einmalig hohen Krankenstand und in die Schräge geratener Work-Life-Balance werden wir uns den Aufschwung nicht wieder erarbeiten können. Es hat noch nie eine Gesellschaft gegeben, die mit weniger Arbeit ihren Lebensstandard gesichert hat.
Schwarz-Rot und Schwarz-Grün ist für Sie dasselbe?
In der Substanz ist es dasselbe. Aber es gibt ja Perspektiven für eine Koalition der Mitte. Das ist möglich, wenn es CDU und FDP gelingt, die nicht rechtsradikalen, sondern gemäßigten Wähler der AfD für das demokratische Zentrum zurückzugewinnen. Das wären fünf, sechs Prozent von derzeit 18 Prozent möglichem Stimmenanteil der AfD. Diese Leute wählen die Partei nicht wegen der rechtsradikalen Positionen der AfD, sondern wollen protestieren gegen Bürokratismus, ungeordnete Einwanderung, grüne Klima- und Energiepolitik oder mangelnde Meinungspluralität in den Medien, weil der öffentlich-rechtliche Rundfunk aus ihrer Sicht die Dinge nur einseitig darstellt …
… was Sie ja gerade erlebt haben.
Ich beteilige mich nicht an Medienschelte.
Aber wenn man die Medien nicht kritisiert, überlässt man das Feld erst wieder der AfD, die dann „Lügenpresse“ schreit …
Meine Kritik an den Medien wäre nicht, dass sie lügen würden. Wenn ich Medienkritik äußere, dann ist es an der mangelnden inneren Pluralität in den Redaktionen, wo dann der einzelne Abweichler möglicherweise nicht mehr zur Feier unter Kollegen eingeladen wird, wie Jan Fleischhauer in seinem berühmt gewordenen Buch „Unter Linken“ aus der Spiegel-Redaktion zu berichten wusste. Und meine Kritik richtet sich dagegen, dass alles sehr gleich klingt.
Es gab eine Analyse der NZZ, dass Sie bei den deutschen Medien sogar schlechter wegkommen als Alice Weidel.
Ich weiß nicht, wie valide diese Untersuchung ist. Aber zurück zum Thema: Ich glaube, dass Union und FDP ein gemeinsames Angebot machen könnten, um gemäßigte AfD-Wähler für das demokratische Zentrum zurückzugewinnen. Allerdings hat die Union sich gegenwärtig entschieden, durch einen Flirt mit den Grünen eher das Gegenteil zu tun.
Aber mit Ihrer Position bekommen Sie trotzdem viel Gegenwind in den Medien, etwa, als Sie neulich sagten, Sie wollten sich an Milei oder Musk orientieren.
Das sagt etwas über unser Land aus: Wir sind sehr gut darin, andere kleinzureden. Diese Form der selbstbezogenen Arroganz können wir uns aber nicht mehr leisten. Ich beobachte eher, dass wir international belächelt werden. Unsere wirtschaftliche Stärke als geopolitisches Argument für unsere Werte und Interessen hat stark an Gewicht verloren. Herr Milei versucht bei aller Schroffheit immerhin, ein heruntergewirtschaftetes Land zu drehen. Herr Musk ist bei aller Fragwürdigkeit der erfolgreichste Unternehmer der Gegenwart. Der schafft es, dass eine Rakete in den Orbit steigt und danach wieder von einem Arm aufgefangen wird. Da kann man auch mal Anerkennung zollen. Denn was ist uns in den vergangenen Jahren richtig gut gelungen?
Dieter Bohlen?
Jedenfalls wird man niemanden beeindrucken, dass der Flaschendeckel jetzt fest mit der Plastikflasche verbunden ist.
Bei den Ursachen der Krise gibt es zwei Elefanten im Raum: die hohen Energiepreise und die Kosten für die Kriege, die ja auch Anlass für den Bruch der Koalition waren.
Herr Scholz wollte 15 Milliarden Euro Schulden machen, damit er drei Milliarden an die Ukraine geben kann. Nach dem Ende der Koalition ist keine Rede mehr davon, dass die Ukraine mehr Geld bekommen soll. Die drei Milliarden hätte man auch ohne Bruch der Schuldenbremse finden können. Ich hatte ja vorgerechnet, dass mit Veränderungen bei Klimaschutz, Energiepolitik, Bürgergeld und Einwanderung es möglich ist, die Steuern zu senken und auf Rekordniveau zu investieren. Wir haben genug Geld. Aber wir leisten uns ein Bürgergeld, das einige als bedingungsloses Grundeinkommen verstehen, und einen Klimaschutz, der funktionierende Anlagen verschrottet, obwohl sie noch zur Wertschöpfung beitragen könnten. Polen, Italien oder Schweden können dann das CO₂ ausstoßen, das wir in Deutschland mit viel Geld verhindern wollten. Auch die Energiepreise könnten etwa bereits dadurch sinken, dass wir einfach von Erdverkabelung auf Hochspannungsmasten umsteigen. In der Landschaft stehen sowieso Windkraftanlagen, dann kann da auch ein Hochspannungsmast stehen. Das allein würde 36 Milliarden Euro an Netzentgelten sparen, die sonst der Bafög-Empfänger, die Rentnerin oder der mittelständische Betrieb zahlen müssten. Wir brauchen diese Stromautobahnen, um die Offshore-Windenergie vom Norden nach Süden zu bringen.
Shell hat gerade seine Investments in Erneuerbare Energien zurückgefahren. Es scheint so etwas wie eine schleichende Rückkehr von Kernkraft und Fossilen zu geben. Wäre das ein Weg?
Ich finde die erneuerbaren Energien in der langen Perspektive äußerst überzeugend. In der aktuellen Phase brauchen wir aber mehr Technologieoffenheit, als mit den Grünen möglich war. Wir sollten zum Beispiel die CO₂-Speicherung (CCS) nicht nur in der Grundstoffindustrie, sondern auch in der Energieerzeugung erlauben. Unternehmen können dann ein mit fossilem Gas oder mit Steinkohle betriebenes Kraftwerk weiterführen, wenn sie auf eigene Kosten CCS-Lösungen in Anspruch nehmen. Ich stelle nicht das Ziel der Treibhausgasneutralität infrage. Nur den Weg, den wir in Deutschland dorthin beschreiten, müssen wir neu denken.
Jens Büttner/dpa
Wie erklären Sie sich das Phänomen, dass einerseits die Arbeitslosigkeit steigt, auf der anderen Seite aber den Unternehmen Mitarbeiter fehlen?
Es ist spürbar, dass wir an Lebensstandard verlieren. Es wird teurer. Dieser Effekt wird sich in den kommenden Jahren verstärken, wenn wir nicht mit einer anderen Wirtschaftspolitik gegensteuern. Das Problem kann man nicht durch Umverteilung lösen. Wir müssen dafür sorgen, dass der Kuchen größer wird, damit die einzelnen Tortenstücke größer werden, statt an den Tortenstücken rumzuschneiden. Hinzu kommt, dass wir einen differenzierten Arbeitsmarkt haben. In einigen Regionen haben wir einen Mangel an hochqualifizierten Arbeitskräften. Zugleich gibt es einen großen Mangel in anderen Bereichen wie Gastronomie, Serviceleistungen oder Handwerk. Die beiden Problemkreise hängen zusammen: Wenn die hochqualifizierte Facharbeiterin nur Teilzeit arbeiten kann, weil die Kinderbetreuung fehlt, ist das eine Wachstumsbremse. Wir brauchen deshalb einen ganzheitlichen Ansatz: Wir brauchen die Top-Kraft, um die Wachstumsbremse zu lösen, und wir brauchen stärkere Anreize für die, die wählen, ob sie arbeiten oder Sozialleistungen in Anspruch nehmen. Hinzu kommt: Die Arbeitskräfte, die jetzt ihre gut bezahlten Jobs zum Beispiel in der Automobilindustrie verlieren, sind nicht in der gleichen Weise absorbierbar durch den örtlichen Mittelstand. Das produzierende Familienunternehmen in Schweinfurt etwa, wo in den nächsten Jahren tausende Arbeitsplätze abgebaut werden, kann nicht ohne weiteres den Industriearbeiter übernehmen, weil der in der Industrie ganz andere Tarif-Bedingungen hatte. Um auf diese Entwicklungen reagieren zu können, brauchen wir eine andere Politik, also Flexibilisierung am Arbeitsmarkt und andere Regeln beim Bürgergeld.
Was soll beim Bürgergeld geschehen – ganz weg, oder weniger?
Der Regelsatz muss an das sozioökonomische Existenzminimum angepasst werden, er ist momentan zu hoch, weil die Inflation zu hoch veranschlagt wurde. Wir brauchen andere Arbeitsanreize: Vorrang muss immer die Vermittlung in Beschäftigung haben. Wer angebotene Arbeit ablehnt, muss eine Sanktion erfahren. Wir müssen zudem stärker gegen die Kombination aus Bürgergeld und Schwarzarbeit vorgehen. Wir sollten außerdem die Leistungen für Miete und Nebenkosten pauschalieren, bezogen auf den Wohnort.
Die FDP ist eine wirtschaftsliberale Partei. Müssten Sie nicht vor allem dafür sorgen, dass neue Unternehmen in Deutschland entstehen, damit irgendjemand Geld hereinbringt, das dann verteilt wird?
Die Besonderheit der FDP ist, dass sie zugleich Freiheit in der Marktwirtschaft und Liberalität in der Gesellschaft vertritt. Wir setzen uns also nicht für die Unternehmer ein, sondern für den einzelnen Menschen. Ihn wollen wir stark machen durch Bildung. Ihn wollen wir schützen vor Bevormundung und Bürokratisierung seines Lebens. Ihn wollen wir schützen vor finanzieller Überforderung durch den Staat. Ihm wollen wir Arbeitsmarktperspektiven eröffnen. Zugleich müssen wir ihn schützen vor der Übermacht wirtschaftlicher Giganten, die selbstherrlich die Regeln der Marktwirtschaft beugen.
Hat die FDP nicht in der Corona-Krise einiges an ihrem Profil verloren? Da gab es einen sehr übergriffigen Staat, der die Rechte des Einzelnen überhaupt nicht mehr geachtet hat. Die FDP ist da doch eher im Windschatten der anderen gesegelt und hat wenig Profil gezeigt.
Das genaue Gegenteil dessen, was Sie beschreiben, war der Fall. Warum war die FDP 2021 bei den Jungwählern so stark? Vor allem, weil die FDP die einzige seriöse Partei gewesen ist, die die Pandemie nicht geleugnet hat wie die Radikalen, aber die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen angezweifelt hat. Die FDP hat dem „Team Vorsicht“ und der Politik von Frau Merkel entgegengehalten, dass die Schließung von Schulen, Universitäten und Ausbildungsstätten einen hohen Preis haben wird. Wir haben uns gegen irreversible Strukturbrüche in der Wirtschaft gestellt. Ich selbst habe im Bundestag gesagt, dass der Konsens der Demokraten endet, weil die Maßnahmen über die Verhältnismäßigkeit hinaus gereicht haben. Wir waren es auch, die die Corona-Politik in der Ampelkoalition verändert haben: Im Winter 2021/2022 gab es trotz entsprechender Forderungen keinen Lockdown mehr.
Sabine Gudath
Sollte es einen Corona-Untersuchungsausschuss geben?
Dafür ist die FDP immer gewesen. Schon die Äußerungen des Gesundheitsministers Lauterbach über sein Agieren in der Pandemie legen nahe, dass das wirklich aufgearbeitet werden muss. Was heißt das für die Zukunft? Die Corona-Pandemie hat gezeigt: Es ist von hohem Wert, dass man eine Partei im Parlament hat, die nicht vom Staat her denkt, sondern vom Individuum und seinen bürgerlichen Freiheitsrechten. Auch heute gibt es Felder, wo das Übermaß staatlicher Eingriffe kritisch gesehen werden muss: wenn der Staat in den Heizungskeller einsteigen will, wenn er Ernährungsgewohnheiten steuern will oder das Privateste mit Datenspeicherung ausforschen möchte.
Mit Blick auf die Taurus-Debatte: Sie und Herr Scholz haben ja sicher dieselben Informationen. Wie kann es sein, dass Sie beide zu so unterschiedlichen Schlussfolgerungen kommen?
Möglicherweise stecken hinter seiner Haltung eher innenpolitische Überlegungen, die nichts mit der Ukraine zu tun haben. Das wurde ja sichtbar, als Deutschland bei der Frage der Reichweitenbeschränkung von Waffen nicht dem Vorbild der USA gefolgt ist, obwohl es vorher hieß, wir orientieren uns an den Verbündeten.
Wenn Sie Bundeskanzler wären: Es gäbe keine Sicherheitsbedenken, der Ukraine Taurus zu liefern?
Ich hätte Vertrauen zur Ukraine, das Waffensystem Taurus nur so einzusetzen, wie man es verabreden würde, also beispielsweise, um den russischen Nachschub für die Front zu unterbinden, aber nicht um eskalierend Russland anzugreifen. Dass es trotz aller Solidaritätsbekundungen Misstrauen gegen die Ukraine gibt, bekümmert mich. Denn in der Ukraine werden ja auch unsere Freiheit und die regelbasierte internationale Ordnung selbst verteidigt.
In der FDP gibt es aber auch die Tradition von Genscher, der den Dialog mit der Sowjetunion geführt hat. Sehen Sie für die FDP einen Auftrag, eine konstruktive Rolle in einem Friedensplan zu spielen und das nicht Frau Wagenknecht zu überlassen?
Die Tradition von Genscher muss man richtig lesen. Hans-Dietrich Genscher stand nicht nur für Entspannungspolitik, sondern auch für den Nato-Doppelbeschluss. Die Abschreckung stand in Verbindung mit dem Angebot, diesen Rüstungsgang nicht zu realisieren, wenn die andere Seite ebenfalls auf militärische Macht verzichtet. Es gibt immer die Möglichkeit für einen Friedensprozess. Aber der Ausgangspunkt ist in Moskau. Und da muss ein Mann nur ein Wort sagen: Stopp.
Paulus Ponizak/Berliner Zeitung
Sollte man das Putin nicht einfach mal direkt sagen?
Das weiß er doch. Der Anruf von Herrn Scholz bei Putin hat dazu geführt, dass in der Folge die Intensität der Angriffe sogar gesteigert wurde. Deutlicher kann der Kreml ja nicht zeigen, wie wenig ihm am Dialog mit dem Westen gelegen ist.
Also können nur die Waffen sprechen?
Die Durchhaltefähigkeit der Ukraine muss so groß sein, dass die Fortsetzung des russischen Angriffskriegs einen zu hohen Preis verlangt. Dass Putin seine Unterstützung für Assad hat einstellen müssen, zeigt ja, dass seine Möglichkeiten limitiert sind. Er muss sogar nordkoreanische Kräfte für die Front rekrutieren. Am Ende kann es keinen russischen Diktatfrieden geben. Die Ukraine muss sagen können, dass all diejenigen, die getötet wurden oder für ihr Land gefallen sind, ein Opfer gebracht haben, das es wert war.
Sie werden gerade Vater. Ändert sich dadurch Ihre Perspektive, etwa im Hinblick auf den Haushalt und die künftigen Generationen?
Ohne Zweifel. Aber ich trenne Familie und Privates strikt, um meine Familie zu schützen.
Warum tun Sie sich das überhaupt an?
Mit der Politik?
Ja. Sie haben ja eigentlich ausgesorgt.
Das klingt so, als hätte ich einen materiellen Antrieb für Politik. Das Gegenteil ist der Fall, ich habe ja gerade erst auf eine Ministerpension verzichtet.
Aber marktliberal gesehen können Sie die ja leicht wieder einnehmen: Sie waren Finanzminister, haben einen Marktwert, haben Know-how, kennen Zusammenhänge …
(lacht) Ich bin vor allem krisen- und sturmerprobt.
Also warum wieder zurück in die Politik?
Ich möchte mein freisinniges Lebensgefühl in die Politik übertragen. Deutschland mit seiner kollektivistischen und etatistischen Tradition braucht ein solches Angebot. Ich möchte nicht den Staatsgläubigen das Feld überlassen.
Haben Sie Feedback? Schreiben Sie uns! [email protected]