Warum will Johannes Weinrich nicht frei sein? Seit 29 Jahren ist er weggesperrt, lebt in einer Zelle in der Berliner Justizvollzugsanstalt Tegel.
Das Bundeskriminalamt bezeichnete Weinrich einst als den „gefährlichsten und erfolgreichsten deutschen Terroristen“. Ein Mörder sowie Freund und Assistent des damals meistgesuchten Terroristen Carlos, der Schakal.
Alles Vergangenheit.
Laut psychologischem Gutachten soll der heute 77 Jahre alte Weinrich jetzt nicht mehr gefährlich sein. Er könnte die Jahre, die ihm noch bleiben, außerhalb der Gefängnismauern verbringen. Doch der Mann, der einst versuchte, die Welt durch Terror zu verändern, will heute nur noch, dass alles so bleibt, wie es ist. Weinrich will in seiner Berliner Zelle bleiben.
Eine Zelle in der Justizvollzugsanstalt Tegel in Berlin
Foto: Murat Tueremis/laif
Es ist ein bizarrer Fall, mit dem sich die JVA Tegel seit Jahren beschäftigt. Nach BILD-Recherchen hätte Weinrich bereits 2022 aus dem Gefängnis kommen können. Doch ohne sein Einverständnis kann ihn die Justiz nicht aus der Haft entlassen.
Rückblick: Weinrich wuchs in der Nähe von Dortmund auf, studierte nach dem Abitur 1966 in Bochum. Später gründete er als Mitarbeiter eines Frankfurter Buchverlags die „Revolutionären Zellen“ mit, tauchte 1975 unter und absolvierte ein Guerilla-Ausbildungslager einer palästinensischen Terrororganisation.
Ilich Ramirez Sánchez – alias Carlos, der Schakal – wurde in Frankreich mehrfach zu lebenslanger Haft verurteilt. Er sitzt in einem Hochsicherheitsgefängnis in Paris
Foto: Sipa/Action Press
Damals lernte er Ilich Ramirez Sánchez kennen. Ein eiskalter Killer-Revolutionär aus Venezuela, den westliche Staaten als Carlos, der Schakal, fürchteten. Sein Leben lieferte bereits Stoff für zahlreiche Bücher und Filme. Ende der 70er-Jahre schloss sich Weinrich Carlos’ Gruppe an, wurde dessen rechte Hand und arbeitete fortan als bezahlter Terrorist.
Sie nahmen Geld von Geheimdiensten, führten ein Luxus-Leben in den besten Hotels – und töteten. Ihre Bilanz: mehr als 100 Anschläge mit mehr als einem Dutzend Toten und rund hundert Verletzten. Eine Frau, die mit beiden Terroristen eine Liebesbeziehung hatte, zitiert Weinrich Jahre später mit den Worten: „Wir sind total verrückt geworden, das hat nichts mehr mit Politik zu tun, was wir gemacht haben.“
Weinrich organisierte 1982 den Anschlag mit 23 Kilogramm Sprengstoff auf das französische Kulturzentrum in Berlin
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Erst 1995 gelang es, Weinrich im Jemen zu verhaften. Nach einem vierjährigen Prozess verurteilte ihn ein Gericht wegen des Sprengstoffanschlags auf das Berliner Kulturzentrum Maison de France im Jahr 1983 (1 Toter, 23 Verletzte) zu einer lebenslangen Haft und stellte die „besondere Schwere der Schuld“ fest. Damit war eine Entlassung nach nur 15 Jahren ausgeschlossen.
Nach BILD-Informationen erklärten die Richter damals, dass Weinrich insgesamt 27 Jahre in Haft bleiben muss – also bis 2022. Dem Vernehmen nach bereitet daher die Justiz seit mehr als zwei Jahren die Entlassung von Weinrich vor. Ein eingeholtes psychologisches Gutachten bescheinigt, dass von ihm keine Gefahr für die Gesellschaft ausgehe. Es fehlt eigentlich nur noch die Unterschrift von Weinrich auf einem Formular – und er wäre frei.
Auf Anfrage erklärt die zuständige Berliner Senatsverwaltung für Justiz: „Gefangene sind gegebenenfalls unter klar geregelten Bedingungen berechtigt, einen Antrag auf vorzeitige Entlassung zu stellen. Für Gefangene besteht jedoch keine Pflicht, einen derartigen Antrag zu stellen.“
Ein Gefängnisflur in der JVA Tegel. Das Netz dient zum Schutz vor herunterfallenden oder geworfenen Gegenständen
Foto: imago/Rolf Kremming
BILD fragte auch den Anwalt von Weinrich, warum sein Mandant nicht rauswill. Der Jurist lehnte eine Stellungnahme ab. Weitere Recherchen offenbaren aber einen Grund für das seltsame Verhalten: Demnach fürchtet Weinrich nach einer Entlassung aus der JVA Tegel eine Haftstrafe in Frankreich.
▶︎ Hintergrund: Im November 2011 verurteilte auch ein Pariser Gericht Weinrich in Abwesenheit zu einer lebenslangen Gefängnisstrafe. Im Vergleich zu Deutschland gelten die Haftbedingungen in Frankreich als härter. Das dürfte ihm auch sein ehemaliger Terror-Komplize Carlos erzählt haben. Wie BILD erfuhr, stehen beide in Kontakt. Der Schakal wurde in Frankreich gleich dreimal zu lebenslanger Haft verurteilt, sitzt im berüchtigte Pariser Gefängnis La Santé.
Darüber hinaus berichten ehemalige Zellen-Nachbarn, dass Weinrich ein hohes Ansehen im Knast genießt. „Er wird respektiert, ist hilfsbereit“, heißt es. Dem Vernehmen nach unterstützt er andere Insassen bei der Formulierung von Texten. Sogar Liebesbriefe soll er im Auftrag erledigen.
Bereits während seines Gerichtsprozesses fiel Weinrichs Leidenschaft für das Schreiben auf. Damals machte er laufend Notizen. Da passt es wohl ins Bild, dass er seinen einzigen Tag Hafturlaub in fast 30 Jahren in einem Buchverlag verbrachte.