Das Humanitäre Völkerrecht als Teil der Menschenrechte | diesseits

Kann das Leid in einem Krieg durch welt­wei­te Abkom­men ver­min­dert wer­den? Dies ist die Inten­ti­on der Gen­fer Kon­ven­ti­on. Vor 160 Jah­ren, am 22. August 1864, unter­zeich­ne­ten zwölf Staa­ten in Genf die „Kon­ven­ti­on zur Ver­bes­se­rung des Schick­sals der ver­wun­de­ten Sol­da­ten der Armeen im Fel­de“. Die­ser völ­ker­recht­li­che Ver­trag sah den Schutz von Ver­wun­de­ten und die Neu­tra­li­tät des Sani­täts­per­so­nals vor. Die­ses soll­te durch ein rotes Kreuz auf wei­ßem Grund sicht­bar sein. Vor 75 Jah­ren wur­de die Kon­ven­ti­on durch vier Abkom­men zum Schutz von Kriegs­ge­fan­ge­nen und Zivil­per­so­nen neu gefasst. Seit 1977 gilt gemäß Zusatz­ab­kom­men auch für nicht-inter­na­tio­na­le Kon­flik­te der huma­ni­tä­re Min­dest­stan­dard der Kon­ven­tio­nen, die inzwi­schen von fast 200 Staa­ten unter­zeich­net wur­den.[1]

Im Wandel der Zeiten

Der römi­sche Staats­mann Cice­ro befand: „inter arma silent leges“ („Unter Waf­fen schwei­gen die Geset­ze“). Den­noch gab es nach dem ame­ri­ka­ni­schen Bür­ger­krieg, dem sehr opfer­rei­chen Krim­krieg und ande­ren Krie­gen im 19. Jahr­hun­dert zuneh­mend Über­le­gun­gen, wie die schlimms­ten Kriegs­aus­wir­kun­gen, ins­be­son­de­re auf Nicht­kämp­fen­de, ver­hin­dert wer­den könn­ten. Ein wich­ti­ger Mei­len­stein dabei war 1864 die Ver­ab­schie­dung der Gen­fer Kon­ven­ti­on durch 12 Staa­ten.

Hel­mut von Molt­ke, Gene­ral­ma­jor des Deut­schen Rei­ches, emp­fand 1880, gegen­über der „Ver­wilderung des drei­ßig­jäh­ri­gen Krie­ges“ sei die Gegen­wart durch eine neue „Huma­ni­tät der Krieg­füh­rung“ gekenn­zeich­net, bei der man un­nötige Gewalt­ex­zes­se ver­mei­den woll­te. Dies stimm­te frei­lich nur sehr begrenzt. Teil­wei­se wur­de zur schnel­len Been­di­gung eines Krie­ges bewusst die Zivil­be­völ­ke­rung ter­ro­ri­siert. Der Völ­ker­recht­ler Carl Lue­der schrieb 1889, dass eine „Huma­ni­täts­rück­sicht“ grund­sätz­lich nie in­frage käme, „ganz abge­se­hen davon, daß die wah­re Huma­ni­tät mög­lichst bal­di­ge Been­di­gung und folg­lich ener­gi­sche Füh­rung des Krie­ges ver­langt und daß wei­ter­ge­hen­de Rück­sich­ten, auch wenn sie von der Theo­rie der Völ­ker­rechts­wis­sen­schaft gefor­dert wer­den soll­ten, nie­mals von der Pra­xis der Krieg­füh­rung beach­tet wer­den wür­den“.[2] Den­noch blieb die Fra­ge der Huma­ni­tät im Krie­ge akut.

Ange­sichts wei­te­rer Krie­ge des aus­ge­hen­den 19. Jahr­hun­derts wur­de par­al­lel zur Gen­fer Kon­ven­ti­on das Haa­ger Recht (1907) ent­wi­ckelt. Nach dem Ers­ten Welt­krieg wur­den wei­te­re Ver­ein­ba­run­gen getrof­fen, z. B. zum Ver­bot che­mi­scher und bio­lo­gi­scher Waf­fen oder zur Behand­lung von Kriegs­ge­fan­ge­nen. Lei­der wur­den sol­che Abkom­men von wich­ti­gen Staa­ten erst gar nicht rati­fi­ziert oder sie wur­den bewusst ver­letzt, etwa durch die Deut­sche Wehr­macht im Krieg gegen die Sowjet­uni­on. Leh­ren aus den Gräu­eln des Zwei­ten Welt­kriegs wur­den erneut in Genf gezo­gen und in vier Abkom­men als neue Gen­fer Kon­ven­ti­on ver­ab­schie­det (1948/49).

Natür­lich sind die Unter­zeich­ner­staa­ten dazu ver­pflich­tet, das Huma­ni­tä­re Völ­ker­recht auch im natio­na­len Recht zu ver­an­kern und ins­be­son­de­re ihre Streit­kräf­te in die­sem Recht zu schu­len. Für die Bun­des­wehr gibt es die zen­tra­le Dienst­vor­schrift „Huma­ni­tä­res Völ­ker­recht in bewaff­ne­ten Kon­flik­ten“.[3]

Inhalte der Konventionen

Der allen vier Kon­ven­tio­nen gemein­sa­me Arti­kel 3 lau­tet:

„Im Fal­le eines bewaff­ne­ten Kon­flikts, der kei­nen inter­na­tio­na­len Cha­rak­ter[4] auf­weist und der auf dem Gebiet einer der Hohen Ver­trags­par­tei­en ent­steht, ist jede der am Kon­flikt betei­lig­ten Par­tei­en gehal­ten, wenigs­tens die fol­gen­den Bestim­mun­gen anzu­wen­den:
1. Per­so­nen, die nicht direkt an den Feind­se­lig­kei­ten teil­neh­men, ein­schließ­lich der Mit­glie­der der bewaff­ne­ten Streit­kräf­te, wel­che die Waf­fen gestreckt haben, und der Per­so­nen, die infol­ge Krank­heit, Ver­wun­dung, Gefan­gen­nah­me oder irgend­ei­ner ande­ren Ursa­che außer Kampf gesetzt wur­den, sol­len unter allen Umstän­den mit Mensch­lich­keit behan­delt wer­den […]. Zu die­sem Zwe­cke sind und blei­ben in Bezug auf die oben erwähn­ten Per­so­nen jeder­zeit und jeden­orts ver­bo­ten:
a. Angrif­fe auf Leib und Leben, nament­lich Mord jeg­li­cher Art, Ver­stüm­me­lung, grau­sa­me Behand­lung und Fol­te­rung;
b. Gefan­gen­nah­me von Gei­seln;
c. Beein­träch­ti­gung der per­sön­li­chen Wür­de, nament­lich ernied­ri­gen­de und ent­wür­di­gen­de Behand­lung;
d. Ver­ur­tei­lun­gen und Hin­rich­tun­gen ohne vor­her­ge­hen­des Urteil eines ord­nungs­mä­ßig bestell­ten Gerich­tes, das die von den zivi­li­sier­ten Völ­kern als uner­läss­lich aner­kann­ten Rechts­ga­ran­tien bie­tet.
2. Die Ver­wun­de­ten und Kran­ken wer­den gebor­gen und gepflegt.“

In einer gro­ßen Zahl wei­te­rer Arti­kel wer­den Fest­le­gun­gen zum Schutz von Ver­wun­de­ten, Kriegs­ge­fan­ge­nen und wei­te­ren kampf­be­tei­lig­ten Opfern fest­ge­legt.

In der vier­ten Kon­ven­ti­on geht es erst­mals um den „Schutz von Zivil­per­so­nen in Kriegs­zei­ten“. So gel­ten z. B. für den Bereich von Kran­ken­häu­sern, gegen die es Angrif­fe in den aktu­el­len Kon­flik­ten sowohl in der Ukrai­ne als auch in Gaza gab, dass „Zivil­spi­tä­ler, die zur Pfle­ge von Ver­wun­de­ten, Kran­ken, Schwa­chen und Wöch­ne­rin­nen ein­ge­rich­tet sind,“ unter kei­nen Umstän­den ange­grif­fen wer­den dür­fen. Die Kran­ken­häu­ser sol­len soweit als mög­lich von mili­tä­ri­schen Zie­len ent­fernt sein. „Der den Zivil­spi­tä­lern gebüh­ren­de Schutz darf nur auf­hö­ren, wenn sie aus­ser­halb ihrer huma­ni­tä­ren Auf­ga­ben zur Bege­hung von Hand­lun­gen ver­wen­det wer­den, die den Feind schä­di­gen. Immer­hin darf ihnen der Schutz erst ent­zo­gen wer­den, nach­dem eine War­nung, die in allen Fäl­len, soweit angän­gig, eine ange­mes­se­ne Frist setzt, unbe­ach­tet geblie­ben ist.“

In die­sem Zusam­men­hang ist auch die Fest­le­gung aus Art. 28 zu sehen, dass kei­ne geschütz­te Per­son dazu benützt wer­den darf, „um durch ihre Anwe­sen­heit mili­tä­ri­sche Ope­ra­tio­nen von gewis­sen Punk­ten oder Gebie­ten fern­zu­hal­ten.“
Für Frau­en gilt u. a. Art. 27 der vier­ten Kon­ven­ti­on zum „Schutz von Zivil­per­so­nen in Kriegs­zei­ten“: „Die Frau­en wer­den beson­ders vor jedem Angriff auf ihre Ehre und nament­lich vor Ver­ge­wal­ti­gung, Nöti­gung zur gewerbs­mä­ßi­gen Unzucht und jeder unzüch­ti­gen Hand­lung geschützt.“

Pri­va­tes und öffent­li­ches Eigen­tum ist geschützt, „aus­ser in Fäl­len, wo sol­che Zer­stö­run­gen wegen mili­tä­ri­scher Ope­ra­tio­nen uner­läss­lich wer­den soll­ten.“

Ins­be­son­de­re im Gaza-Krieg steht Art. 55 im beson­de­ren Fokus:

Die Beset­zungs­macht hat die Pflicht, die Ver­sor­gung der Bevöl­ke­rung mit Nah­rungs- und Arz­nei­mit­teln mit allen ihr zur Ver­fü­gung ste­hen­den Mit­teln sicher­zu­stel­len; ins­be­son­de­re hat sie Lebens­mit­tel, medi­zi­ni­sche Aus­rüs­tun­gen und alle ande­ren not­wen­di­gen Arti­kel ein­zu­füh­ren, falls die Hilfs­quel­len des besetz­ten Gebie­tes nicht aus­rei­chen.  [… ]

Recht muss auch durchgesetzt werden

Die Gen­fer Kon­ven­tio­nen gehö­ren zu den erfolg­reichs­ten Rechts­set­zungs­pro­jek­ten in der Geschich­te des Völ­ker­rechts und sie wer­den mit den Ent­wick­lun­gen der Kriegs­füh­rung wei­ter­ent­wi­ckelt wer­den müs­sen. „Den­noch gehen auch heu­ti­ge Krie­ge regel­mä­ßig mit Ver­let­zun­gen des huma­ni­tä­ren Völ­ker­rechts ein­her, oder es wird ver­sucht, Schutz­be­stim­mun­gen aus­zu­he­beln oder zu umge­hen. Der gewach­se­nen Auto­ri­tät des Inter­na­tio­na­len Straf­ge­richts­hofs zum Trotz lässt die Durch­set­zung der huma­ni­tär-völ­ker­recht­li­chen Bestim­mun­gen wei­ter zu wün­schen übrig – nicht zuletzt, weil sie all­zu oft den Inter­es­sen ein­zel­ner Staa­ten zuwi­der­lau­fen wür­de.“[5] Das Haupt­pro­blem in Zusam­men­hang mit dem Huma­ni­tä­ren Völ­ker­recht ist sei­ne Umset­zung. Dabei geht es zum einen um die Erfas­sung von Ver­stö­ßen, ins­be­son­de­re von aus­ge­spro­che­nen Kriegs­ver­bre­chen, und dann natür­lich um die Ahn­dung der Ver­bre­chen, um die Ver­ur­tei­lung von Natio­nen und Kriegs­ver­bre­chern.

1991 wur­de als völ­ker­recht­li­ches Organ die Inter­na­tio­na­le huma­ni­tä­re Ermitt­lungs­kom­mis­si­on (Inter­na­tio­nal Huma­ni­ta­ri­an Fact-Fin­ding Com­mis­si­on) mit Sitz in Bern ein­ge­rich­tet. Sie soll im Auf­trag von Staa­ten, die ihre Kom­pe­tenz aner­kannt haben, aber unpar­tei­isch sind, Vor­wür­fen zu schwer­wie­gen­den Ver­stö­ßen gegen das huma­ni­tä­re Völ­ker­recht nach­ge­hen. Die Kom­mis­si­on selbst hat nicht die Mög­lich­keit der Ver­ur­tei­lung von Staa­ten oder Per­so­nen.

Eine Straf­ver­fol­gung ist mög­lich einer­seits durch die natio­na­le Gesetz­ge­bung der Staa­ten, die die Kon­ven­ti­on aner­kannt haben. Alle Unter­zeich­ner­staa­ten kön­nen Kriegs­ver­bre­chen ankla­gen und ver­ur­tei­len, unab­hän­gig davon, ob die­se im eige­nen Staats­ge­biet statt­fan­den oder eige­ne Staats­an­ge­hö­ri­ge betei­ligt waren.[6]

Wenn eine natio­na­le Straf­ver­fol­gung nicht mög­lich oder nicht gewollt ist, kommt der Interna­tionale Straf­ge­richts­hof (IStGH) in Den Haag ins Spiel. Er hat mit Inkraft­tre­ten des Römi­schen Sta­tu­tes[7] als sei­ner völ­ker­recht­li­chen Grund­la­ge seit dem 1. Juli 2002 die Mög­lich­keit, Völ­ker­mord, Ver­bre­chen gegen die Mensch­lich­keit, Ver­bre­chen der Aggres­si­on und Kriegs­ver­bre­chen straf­recht­lich zu ver­fol­gen. Er kann kei­ne Staa­ten ver­fol­gen, son­dern nur Per­so­nen. Der Gerichts­hof kann von Unter­zeich­ner­staa­ten ange­ru­fen, vom Sicher­heits­rat der Ver­ein­ten Natio­nen beauf­tragt oder aus eige­ner Initia­ti­ve tätig wer­den. Chi­na, die USA, Russ­land, Isra­el und wei­te­re Län­der gehö­ren nicht oder nicht mehr zu den 124 Län­dern, die den Gerichts­hof aner­ken­nen.

Bis­he­ri­ge Ver­fah­ren vor dem Inter­na­tio­na­len Straf­ge­richts­hof rich­te­ten sich gegen nicht­staat­li­che Akteu­re aus Län­dern mit gerin­gen inter­na­tio­na­len Ein­fluss­mög­lich­kei­ten, vor allem aus Afri­ka und Latein­ame­ri­ka. Dies ändert sich all­mäh­lich.

Anklagen im Zusammenhang mit dem Gaza- und dem Ukrainekrieg

In letz­ter Zeit hat der Inter­na­tio­na­le Straf­ge­richts­hof Haft­be­feh­le gegen rus­si­sche Staats­an­ge­hö­ri­ge erlas­sen sowie gegen Füh­rer der Hamas und israe­li­sche Staats­män­ner.

Wäh­rend der Hamas vor­ran­gig der Über­fall vom 7. Okto­ber 2023 auf Isra­el zur Last gelegt wird,[8] geht es bei den Ankla­gen gegen Isra­els Pre­mier­mi­nis­ter Ben­ja­min Net­an­ya­hu und sei­nen frü­he­ren Ver­tei­di­gungs­mi­nis­ter Yoav Gal­lant um Kriegs­ver­bre­chen und Ver­bre­chen gegen die Mensch­lich­keit im Gaza-Krieg.[9] In ihrer Ent­schei­dung vom 21. Novem­ber 2024 wies die Vor­ver­fah­rens­kam­mer I des Gerichts­hofs zunächst Anfech­tun­gen Isra­els gegen die Zustän­dig­keit und das Ver­fah­ren selbst zurück. Die Zustän­dig­keit ergibt sich bereits dar­aus, dass Paläs­ti­na das Rom-Sta­tut unter­zeich­net hat.

Sodann sieht die Kam­mer „hin­rei­chen­de Grün­de für die Annah­me, dass Herr Netan­ja­hu, gebo­ren am 21. Okto­ber 1949, Minis­ter­prä­si­dent Isra­els zur Zeit des betref­fen­den Ver­hal­tens, und Herr Gal­lant, gebo­ren am 8. Novem­ber 1958, zum Zeit­punkt des mut­maß­li­chen Ver­hal­tens Ver­tei­di­gungs­mi­nis­ter Isra­els, jeweils als Mit­tä­ter für die Bege­hung der Taten gemein­sam mit ande­ren straf­recht­lich ver­ant­wort­lich sind: das Kriegs­ver­bre­chen des Hun­gers als Metho­de der Kriegs­füh­rung; und die Ver­bre­chen gegen die Mensch­lich­keit wie Mord, Ver­fol­gung und ande­re unmensch­li­che Hand­lun­gen.“

„Die Kam­mer fand auch hin­rei­chen­de Grün­de für die Annah­me, dass Herr Netan­ja­hu und Herr Gal­lant als zivi­le Vor­ge­setz­te jeweils straf­recht­lich für das Kriegs­ver­bre­chen ver­ant­wort­lich sind, einen Angriff auf die Zivil­be­völ­ke­rung vor­sätz­lich gerich­tet zu haben.“[10]

„Die Kam­mer stell­te fest, dass es hin­rei­chen­de Grün­de für die Annah­me gibt, dass der Man­gel an Nah­rung, Was­ser, Strom und Treib­stoff sowie an spe­zi­fi­scher medi­zi­ni­scher Ver­sor­gung Lebens­be­din­gun­gen geschaf­fen hat, die geeig­net sind, die Zer­stö­rung eines Teils der Zivil­be­völ­ke­rung in Gaza her­bei­zu­füh­ren, was zum Tod von Zivi­lis­ten, ein­schließ­lich Kin­dern, auf­grund von Unter­ernäh­rung und Dehy­drie­rung führ­te.“

„Dar­über hin­aus sind die bei­den Per­so­nen durch die absicht­li­che Ein­schrän­kung oder Ver­hin­de­rung des Ein­drin­gens von medi­zi­ni­schen Hilfs­gü­tern und Medi­ka­men­ten, ins­be­son­de­re von Anäs­the­ti­ka und Nar­ko­se­ge­rä­ten, auch dafür ver­ant­wort­lich, dass sie durch unmensch­li­che Hand­lun­gen behand­lungs­be­dürf­ti­gen Per­so­nen gro­ßes Leid zufü­gen.“
 
In ihren wei­ter­ge­hen­den Aus­füh­run­gen weist die Kam­mer dar­auf hin, gegen wel­che kon­kre­ten Anfor­de­run­gen der Gen­fer Kon­ven­ti­on bzw. des Rom-Sta­tuts von den Ange­klag­ten ver­sto­ßen wur­de.

In sei­ner Erklä­rung vom 21. Novem­ber 2024 betont der Chef­an­klä­ger Karim A. A. Khan: „Bei mei­nen Begeg­nun­gen mit den Opfern und Ange­hö­ri­gen der Gei­sel­nah­men aus den Kib­bu­zim und mit den Opfern aus Gaza, die so vie­le gelieb­te Men­schen ver­lo­ren haben, habe ich unter­stri­chen, dass das Gesetz für alle da ist, dass sei­ne Auf­ga­be dar­in besteht, die Rech­te aller Men­schen zu ver­tei­di­gen.“[11]

Auch im rus­sisch-ukrai­ni­schen Krieg gibt es eine Viel­zahl von Mel­dun­gen über Ver­bre­chen gegen die Mensch­lich­keit und Kriegs­ver­bre­chen.[12] Am 17. März 2023 hat die Vor­ver­fah­rens­kam­mer II des Inter­na­tio­na­len Straf­ge­richts­hofs im Zusam­men­hang mit dem Krieg in der Ukrai­ne Haft­be­feh­le gegen Wla­di­mir Putin und Maria Lwo­wa-Belo­wa erlas­sen. „Die Vor­ver­fah­rens­kam­mer II ver­trat auf der Grund­la­ge der Anträ­ge der Staats­an­walt­schaft vom 22. Febru­ar 2023 die Auf­fas­sung, dass es hin­rei­chen­de Grün­de für die Annah­me gibt, dass jeder Ver­däch­ti­ge für das Kriegs­ver­bre­chen der rechts­wid­ri­gen Depor­ta­ti­on der Bevöl­ke­rung und des rechts­wid­ri­gen Trans­fers der Bevöl­ke­rung aus den besetz­ten Gebie­ten der Ukrai­ne in die Rus­si­sche Föde­ra­ti­on zum Nach­teil ukrai­ni­scher Kin­der ver­ant­wort­lich ist.“[13]

Im März 2024 wur­den außer­dem Haft­be­feh­le gegen rus­si­sche Offi­zie­re aus­ge­stellt wegen fort­dau­ern­der Angrif­fe auf Kraft­wer­ke in der Ukrai­ne.[14]

Im Okto­ber 2024 wur­de vom UN-Men­schen­rechts­rat der Bericht der Unab­hän­gi­gen inter­na­tio­na­len Unter­su­chungs­kom­mis­si­on zur Ukrai­ne bekannt, wonach rus­si­sche Behör­den die Fol­te­rung von ukrai­ni­schen Zivi­lis­ten und Kriegs­ge­fan­ge­nen betrie­ben haben.” Daher haben sie, zusätz­lich zu Fol­ter als Kriegs­ver­bre­chen, Fol­ter auch als Ver­bre­chen gegen die Mensch­lich­keit ver­übt“.[15]

Das Humanitäre Völkerrecht muss umgesetzt werden

Die Ankla­gen und die vor­lie­gen­den Haft­be­feh­le zei­gen, dass Kriegs­hand­lun­gen an den Vor­ga­ben des huma­ni­tä­ren Völ­ker­rechts gemes­sen wer­den. Die Men­schen­rech­te wur­den von unse­ren Gesell­schaf­ten als ver­bind­lich ver­ab­schie­det. Und wenn der Krieg „die blo­ße Fort­set­zung der Poli­tik mit ande­ren Mit­teln“[16] ist, dann müs­sen die Men­schen­rech­te auch im Krieg gel­ten und ein­ge­klagt wer­den.

Der EU-Außen­be­auf­trag­te Josep Bor­rell hat alle Mit­glieds­län­der auf­ge­ru­fen, den inter­na­tio­na­len Haft­be­fehl gegen Isra­els Regie­rungs­chef Ben­ja­min Net­an­ya­hu und ande­re Ver­ant­wort­li­che zu ach­ten. Die Ent­schei­dung des Inter­na­tio­na­len Straf­ge­richts­hofs (IStGH) in Den Haag sei rechts­ver­bind­lich, sag­te Bor­rell. Alle EU-Staa­ten sei­en als Ver­trags­par­tei­en „ver­pflich­tet, die Gerichts­ent­schei­dung umzu­set­zen“.[17] Das fällt man­chem Poli­ti­ker und auch man­chen Freun­den Isra­els in Deutsch­land schwer. So hat Mar­kus Söder im Novem­ber vor der Rats­ver­samm­lung des Zen­tral­rats der Juden erklärt: „Ich fin­de es befremd­lich, wenn der Inter­na­tio­na­le Straf­ge­richts­hof Isra­el und die Hamas gleich­setzt. Der Straf­ge­richts­hof hat sich mas­siv selbst beschä­digt.“[18] Und: „Ich hiel­te es für absurd, wenn auf deut­schem Boden der Regie­rungs­chef von Isra­el ver­haf­tet wer­den wür­de.“ Die­se Form von Nibe­lun­gen­treue ver­kennt, dass die Soli­da­ri­tät mit dem Staat Isra­el als sol­chem und mit dem israe­li­schen Volk nicht bedeu­tet, dass man alle Ent­schei­dun­gen und alle Aktio­nen des Staa­tes zu akzep­tie­ren hat. Es dient den Inter­es­sen Isra­els, wenn es in die Schran­ken der Men­schen­rech­te, hier des Huma­ni­tä­ren Völ­ker­rechts, ver­wie­sen wird.

Und noch etwas Wich­ti­ges wird hier über­se­hen: Ein Haft­be­fehl ist noch kei­ne Ver­ur­tei­lung, wie auch Art. 11 der All­ge­mei­nen Erklä­rung der Men­schen­rech­te besagt: „Jeder Mensch, der einer straf­ba­ren Hand­lung beschul­digt wird, ist so lan­ge als unschul­dig anzu­se­hen, bis sei­ne Schuld in einem öffent­li­chen Ver­fah­ren, in dem alle für sei­ne Ver­tei­di­gung nöti­gen Vor­aus­set­zun­gen gewähr­leis­tet waren, gemäß dem Gesetz nach­ge­wie­sen ist.“

Herr Söder und wir alle könn­ten Herrn Netan­ja­hu in sei­ner Ver­tei­di­gung bei­sprin­gen, wenn wir von sei­ner Unschuld über­zeugt sind, aber wir müs­sen das ordent­li­che Ver­fah­ren akzep­tie­ren.

Und dann stellt sich noch eine Fra­ge: Ist der Fall des Dik­ta­tors Wla­di­mir Putin anders zu sehen als der des israe­li­schen Pre­miers? Nein. Deutsch­land sei ver­pflich­tet, die Haft­be­feh­le gegen Wla­di­mir Putin und Ben­ja­min Netan­ja­hu gleich­zu­be­han­deln, schreibt die Süd­deut­sche Zei­tung am 6. Dezem­ber 2024.[19] „Sonst droht schwe­rer Scha­den.“

[1] Alle Kon­ven­tio­nen und Zusatz­ab­kom­men fin­den sich unter Huma­ni­tä­res Völ­ker­recht: Gen­fer Kon­ven­tio­nen
[2] Carl Lue­der, Krieg und Kriegs­recht im All­ge­mei­nen, in: Franz von Holt­zen­dorff (Hrsg.), Hand­buch des Völ­ker­rechts, Bd. 4, Ham­burg 1889, S. 174–194, hier S. 193.
[3] Huma­ni­tä­res Völ­ker­recht in bewaff­ne­ten Kon­flik­ten
[4] Nur in Arti­kel 3 geht es um Kon­flik­te, in denen auch nicht­staat­li­che Akteu­re invol­viert sind. Für die­se gel­ten die in dem Arti­kel ange­ge­be­nen Min­dest­stan­dards. Ansons­ten bezie­hen sich die vier Abkom­men im Kern auf zwi­schen­staat­li­che Kon­flik­te, set­zen also eine sta­bi­le recht­li­che Umge­bung für die Umset­zung der völ­ker­recht­li­chen Nor­men vor­aus. Für nicht-inter­na­tio­na­le Krie­ge, in denen auch nicht­staat­li­che Akteu­re betei­ligt sind, gel­ten neben dem hier auf­ge­führ­ten Art. 3 auch die erwei­ter­ten huma­ni­tä­ren Fest­le­gun­gen aus dem zwei­ten Zusatz­pro­to­koll von 1977. 
[5] Johan­nes Pie­pen­brink in Edi­to­ri­al | Gen­fer Kon­ven­tio­nen | bpb.de, 18.7.2024
[6] Die BRD hat z. B. die Gen­fer Kon­ven­tio­nen in ihrem Völ­ker­straf­ge­setz­buch berück­sich­tigt (Bun­des­ge­setz­blatt BGBl. Online-Archiv 1949 – 2022 | Bun­des­an­zei­ger Ver­lag)
[7] Römi­sches Sta­tut des Inter­na­tio­na­len Straf­ge­richts­hofs – Wiki­pe­dia
[8] In Bezug auf Moham­med Diab Ibra­him Al-Mas­ri, bes­ser bekannt als Deif, Ober­be­fehls­ha­ber des mili­tä­ri­schen Flü­gels der Isla­mi­schen Wider­stands­be­we­gung Hamas, hät­ten die Rich­ter des Inter­na­tio­na­len Straf­ge­richts­hofs hin­rei­chen­de Grün­de für die Annah­me gefun­den, dass er für Ver­bre­chen wie Mord, Aus­rot­tung, grau­sa­me Behand­lung, Fol­ter, Ver­ge­wal­ti­gung und ande­re For­men sexu­el­ler Gewalt, Gei­sel­nah­me, Ver­let­zung der per­sön­li­chen Wür­de ver­ant­wort­lich sei. (Chef­an­klä­ger Karim A..A. Kahn in State­ment of ICC Pro­se­cu­tor Karim A.A. Khan KC on the issu­an­ce of arrest war­rants in the Situa­ti­on in the Sta­te of Pal­es­ti­ne | Inter­na­tio­nal Cri­mi­nal Court )
[9] Situa­ti­on in the Sta­te of Pal­es­ti­ne: ICC Pre-Tri­al Cham­ber I rejects the Sta­te of Israel’s chal­lenges to juris­dic­tion and issues war­rants of arrest for Ben­ja­min Net­an­ya­hu and Yoav Gal­lant | Inter­na­tio­nal Cri­mi­nal Court
[10] eben­da
[11] State­ment of ICC Pro­se­cu­tor Karim A.A. Khan KC on the issu­an­ce of arrest war­rants in the Situa­ti­on in the Sta­te of Pal­es­ti­ne | Inter­na­tio­nal Cri­mi­nal Court
[12] Sie­he z. B. Kriegs­ver­bre­chen im Rus­sisch-Ukrai­ni­schen Krieg – Wiki­pe­dia
[13] Situa­ti­on in Ukrai­ne: ICC jud­ges issue arrest war­rants against Vla­di­mir Vla­di­mi­ro­vich Putin and Maria Alek­seyev­na Lvo­va-Bel­o­va | Inter­na­tio­nal Cri­mi­nal Court
[14] State­ment by Pro­se­cu­tor Karim A.A. Khan KC on the issu­an­ce of arrest war­rants in the Situa­ti­on in Ukrai­ne | Inter­na­tio­nal Cri­mi­nal Court
[15] Ukrai­ne: Tor­tu­re by Rus­si­an aut­ho­ri­ties amounts to cri­mes against huma­ni­ty, says UN Com­mis­si­on of Inquiry | OHCHR
[16] Erkennt­nis des preu­ßi­schen Gene­rals und Mili­tär­theo­re­ti­kers Carl von Clau­se­witz
[17] Ben­ja­min Net­an­ya­hu: Josep Bor­rell ruft zur Ein­hal­tung des Haft­be­fehls auf – DER SPIEGEL
[18] Mar­kus Söder übt schar­fe Kri­tik am Haft­be­fehl gegen Isra­els Pre­mier Netan­ja­hu | Jüdi­sche All­ge­mei­ne
[19] Die­ser Haft­be­fehl gegen Netan­ja­hu ist ein Test für das Völ­ker­recht – Mei­nung – SZ.de

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